Wikipedia von innen – Teil 2

Vielleicht war ich vorhin zu optimistisch. Wenn man sich ein wenig länger in der Wikipedia umschaut, beginnt man sich zu ärgern. Warum? Weil sich da ein gewisses Muster abzeichnet. Es besteht darin, dass oberflächliche, falsche, teils sogar verleumderische Zuweisungen zur Wahrheit erklärt werden.

Beispiel 1: Der Artikel über Chögyam Trungpa. Ich habe nichts dagegen, dass da was über Alkohol, Sex mit Schülerinnen und das Geheimhalten der HIV-Infektion des Regenten Ösel Tendzin steht, denn das stimmt ja alles. Aber wenn man dann Diskussionsbeiträge dazu liest, in denen verleumderische Zeitungsberichte über unfundierte Vergewaltigungsvorwürfe als Quelle zitiert, ja sogar (glücklicherweise derzeit vergeblich) in den Artikel hineinreklamiert werden, dann kommt einem doch das, naihrwisstschonwas, …

Beispiel 2: Der Artikel über Thomas Mann. Ellenlang und voll des Lobes (das auch nicht referenziert ist, in vielen Punkten). Jetzt müsste man sich hinsetzen und zumindest einen Punkt einfügen, in dem davon gesprochen wird, dass Thomas Mann nicht nur vom US-Kongress als einen der wichtigsten Stalin-Apologeten bezeichnet wurde, sondern dass er das auch wirklich war. Friedrich Torberg hat das ausführlich dokumentiert. Und er hat darauf hingewiesen, dass die Perfidie gerade darin bestand, dass es viel wirkungsvoller ist, wenn einer sagt: „Ich bin kein Kommunist, sage aber dennoch…“, als wenn einer sagt: „Ich bin Kommunist und sage deshalb…“. Genau das hat Th. Mann getan. Sein Verhältnis zur Politik war überhaupt katastrophal: Zunächst einmal war er gegen die Demokratie. Dann hat er versucht, sich mit den Nazis zu arrangieren, noch nachdem die Bücher seines Bruders Heinrich und seines Sohnes Klaus schon verbrannt waren (die Bücher Thomas Manns waren wohlweislich geschont worden, weil die Nazis ihrerseits hofften, ihn auf ihre Seite ziehen zu können). Erst sehr spät, als ihm klar wurde, dass ein solches Arrangement nicht möglich ist, bezog er erstmals öffentlich gegen Hitler Stellung.
Und kaum war er in den USA, begann er, mit dem anderen Totalitarismus, dem Kommunismus, zu sympathisieren, wie auch andere, die zwar im sicheren Amerika saßen, aber gleichzeitig Stalin die Stange hielten: Bert Brecht, Jakob Wassermann, Berthold Viertel und viele mehr. Es ist kein Wunder, dass es ihm irgendwann in der McCarthy-Zeit in den USA zu ungemütlich wurde. Das wird sogar in der Wikipedia so dargestellt (wenngleich dort natürlich alle Schuld bei den Amis liegt).
Also ging er nach Europa, ließ sich in der Schweiz nieder, besuchte Ostdeutschland und sonderte Zitate ab wie: „Die Ablehnung des Kommunismus ist die größte Torheit unserer Zeit.“ Bravo, kann man da nur sagen, und es ist zum Ihrwisstschonwas…

Alles in allem kriegt man das Gefühl, dass auch in der Wikipedia einige wie Spinnen im Netz sitzen, sich einen gewissen Status erobert haben, den sie verteidigen und dazu benützen, gewisse Dinge durchzuboxen oder zu verhindern. Kein Wunder, ist halt wie überall.

Und es geht munter weiter – eine Replik an Pipifax

Schon interessant. Der wunderliche Fritz schweigt, während der Pipifax weiterpostet. Ich werde den Verdacht nicht los, dass das ein und derselbe Mensch ist. Oder kann es wirklich zwei geben, die so ähnlich, stur und aggressiv argumentieren?

Aber gut, was sagt er denn (ich fasse hier die beiden Postings von gestern zusammen, da sie ja fortlaufend geschrieben sind; immerhin war er so intelligent, den zweiten vor dem ersten abzuschicken, damit man es von oben nach unten lesen kann; Orthographie und Kleinschreibung naturbelassen):

oje, ich soll sie gepruegelt haben? wenn sie erklaerungen, warum man etwas durchaus als anlehnen an antisemitische strategien verstehen kann, als „pruegel“ empfinden, dann sind sie allerdings etwas gar empfindlich. sie haben im uebrigen auf solche argumente in ihren texten *gar* nicht reagiert … vielleicht nicht ganz zufaellig. lieber stellen sie sich als armes opfer dar, obwohl sie a) tatsachen verdreht haben; b) selbst nach dem nachweis, das dies der fall war, auch weiterhin der betreffenden person ein naheverhaeltnis zum tatsaechlichen entwickler unterstellt haben, c) nicht den unterschied zwischen der (moralisch durchaus verwerflichen) entwicklung von chemischen substanzen, die auch zur vernichtung von menschen dienen koennen und der ideologisch-wissenschaftlichen unterfuetterung von eugenisch und rassistisch motiviertem massenmord unterscheiden koennen.
darueber verlieren sie kein wort. ueberfordert sie dies intellektuell?
bieten in ihrem blog ausser empoerung recht wenig inhaltliches. und merken nicht einmal, dass sie wieder rhetorische strategien anwenden, die typisch fuer bestimmte lager sind (etwa: „zu meinen besten freunden zaehlen …,“
ein wenig selbstreflexion wuerde nicht schaden. und sich nicht so wichtig nehmen … v.a. wenn’s ums standard-forum geht.

Also, schön der Reihe nach. Zu den „Erklärungen, warum man etwas durchaus als Anlehnen an antisemitische Strategien verstehen kann“ möchte ich zunächst einmal bemerken, dass diese Erklärungen eben nicht als Erklärungen daherkamen, sondern als massive Denunziation meiner Person als Antisemit, Rechtsradikaler und Revisionist.

Darüber hinaus ist es ja nicht wahr, dass ich auf dieses Argument nicht reagiert hätte. Ich bin der LETZTE, der irgendeiner rechtsradikalen, holocaustleugnenden oder auch nur -relativierenden Argumentation das Wort redet oder sie stützt. Ich gebe auch zu, dass ich den Fehler zu behaupten, Fritz Haber wäre direkt der Entwickler von Zyklon B gewesen, nicht hätte machen sollen. Das ist allerdings bei Fehlern meistens so. Man hat mich darauf aufmerksam gemacht, ich habe das widerrufen, nur ist dieser Widerruf mitsamt allem anderen (inklusive meinem damaligen Postingnamen „jemenfous“) gelöscht worden. Aufgrund der Intervention der Herren Wunderlich oder Pipifax, die sich damit nicht unbedingt einen Dienst erwiesen haben, denn die Aufklärung dieser Missverständnisse hätte durchaus auch im Standard-Forum selbst erfolgen können.

Was mich beim Herrn Pipifax und seiner Argumentation allerdings massiv stört, ist der ständige, wenn jetzt auch etwas subtiler formulierte Vorwurf des Antisemitismus. Wenn er schreibt, ich hätte „auf solche Argumente“ in meinen Texten „*gar* nicht reagiert“, so ist das unzutreffend. Und wenn er mir dann unterstellt, das sei also „vielleicht nicht ganz zufällig“ geschehen, so unterstellt er mir weiterhin massiven Antisemitismus, nur quasi durch die Hintertür. Ich bin natürlich auf diese Argumente eingegangen, schon in meinem Brief an den Standard, der auch hier veröffentlicht ist (und der bisher völlig unbeantwortet blieb, noch nicht einmal eine Lesebestätigung hab ich bekommen), aber ich werde es, speziell für Pipifax und andere, die Wert darauf legen, mich in die Antisemitenlade zu legen, noch deutlicher sagen.

Zunächst einmal die „Verdrehung der Tatsachen“: Ich habe jetzt wohl schon mindestens zehnmal, hier sowie in Postings, die allerdings leider nicht lang gelebt haben, gesagt, dass mir die Behauptung, Fritz Haber hätte das Zyklon B erfunden, leidtut. Und sie tut mir vor allem (oder fast ausschließlich) deshalb leid, weil sie, wie der Pipifax allerdings mit einem gewissen Recht bemerkt, dazu geeignet erschien, antisemitischen Stereotypien Vorschub zu leisten. Ich habe auch schon erwähnt, dass mir zum Zeitpunkt meiner ersten Postings dieser spezielle, sich auf Fritz Haber und Zyklon B beziehende antisemitische Topos nicht bekannt war. Ein Versäumnis, vielleicht. Gut, ich denke, dieser Punkt sollte nun hinlänglich geklärt sein.

Beim nächsten Punkt wird’s allerdings schon schwieriger. Dort argumentiert der Pipifax nämlich, ich hätte „auch nach dem Nachweis, dass dies [also die irrtümliche Zuschreibung des Zyklon B zu Haber] der Fall war, auch weiterhin der betreffenden Person [Fritz Haber] ein Naheverhältnis zum tatsächlichen Entwickler [von Zyklon B, also Walter Heerdt] unterstellt“ (Einfügungen in eckigen Klammern von mir, nur zur Erläuterung). Also, ich glaub nicht, dass das eine großartige Unterstellung war. Pipifax macht nämlich hier einen Fehler, er bezieht sich auf die tatsächlich vorliegenden antisemitischen Klischees anstatt auf mein Posting und meine Intention. Er argumentiert nämlich, dass jede Behauptung, die Fritz Haber auch nur in irgendein Nahverhältnis zur Entwicklung von Zyklon B stellt, falsch und antisemitisch wäre. Und das ist ein Unsinn, möglicherweise sogar ein bewusst und tendenziös verwendeter Unsinn. Und zwar aus einem einfachen Grund: Pipifax tut so, als wäre Zyklon B immer schon zu nichts anderem bestimmt gewesen als zu seinem — fürchterlichen und ewig unverzeihlichen — Einsatz in den Vernichtungslagern der Nazis.
Aber Zyklon B wurde ja in Friedenszeiten zu einem ganz anderen Zweck entwickelt, nämlich als Schädlingsbekämpfungsmittel. Und Walter Heerdt, der Entwickler, war zunächst ein Mitarbeiter Fritz Habers, bis er 1920 die Leitung der DEGESCH, der „Deutschen Gesellschaft für Schädlingsbekämpfung“, von Haber übernahm. Und das soll KEIN Nahverhältnis gewesen sein? Es war Habers Arbeitsgruppe, die zunächst das Zyklon A entwickelte, mit dem es allerdings technische Probleme gab, und dann — nach Bewältigung dieser Probleme — das Zyklon B. Das Patent wurde Heerdt zwar erst 1926 erteilt, aber rückwirkend für 1922, also nur zwei Jahre nachdem er die DEGESCH-Leitung von Haber übernommen hatte. Und die Bemerkung, es sei verwerflich, Haber ein „Naheverhältnis“ zu Heerdt und seiner Arbeit zu unterstellen, mutet angesichts der Biographie Habers, die ich schon an anderer Stelle ausführlicher dargestellt habe, doch seltsam an.
Was hätte denn der Chemiker und Kampfgasentwickler (Phosgen, Chlorgas) Haber, der bis an sein Lebensende von der Rechtmäßigkeit der Verwendung der von ihm entwickelten Gase überzeugt war, gegen Zyklon B als Schädlingsbekämpfungsmittel haben sollen, zumal es von einem seiner Mitarbeiter entwickelt wurde? Und ich bleibe im übrigen bei meiner Einschätzung, dass Haber aufgrund dieser Haltung und seiner Handlungen im Ersten Weltkrieg als Kriegsverbrecher einzustufen ist. Und er ist bis an sein Lebensende, 1934, nicht von dieser Haltung abgerückt.

Das führt mich schon zum Punkt c) im Pipifax-Posting, wo er schreibt, das es durchaus moralisch verwerflich sei, chemische Substanzen zu entwickeln, die auch, wie er sagt, zur Vernichtung von Menschen dienen können. Nur übersieht er dabei, dass Haber selbst die von ihm entwickelten chemischen Substanzen primär zu dem Zweck, Menschen zu vernichten, entwickelt hat. Noch einmal: im und für den Ersten Weltkrieg, ja, aber doch als Waffen und primär nicht zu einem friedlichen Zweck. Ich denke, dass die DEGESCH ja letztlich auch deshalb gegründet wurde, weil man dann eben für das noch aus dem Krieg vorhandene Know-How eine nicht-kriegerische Anwendung gesucht und gefunden hat.

Und wenn man alle diese Tatsachen zusammennimmt, dann muss man sich doch fragen, ob es nicht berechtigt ist, in der Tatsache eine bittere Ironie der Geschichte zu sehen, dass Zyklon B, ein von einem ehemaligen Mitarbeiter Fritz Habers entwickeltes Gas, Jahre später zur Massenvernichtung von Menschen eingesetzt wurde. Und nur zur Erklärung, was ich mit bitterer Ironie meine: Ich meine — bitter. In dieser Aussage ist nicht ein Funken Schadenfreude, ist nicht der mindeste Anklang einer Haltung, die da lauten könnte „Die Juden haben das Zyklon B selbst erfunden“ oder dergleichen rechtsextrem-antisemitischer Schwachsinn mehr. Alles, was ich damit ausdrücken wollte, war Trauer, Trauer über die Tatsache, dass letztlich auch hier ein „Versagen von Wissenschaftlern“ zu grauenhaften Resultaten geführt hat. Das können mir Pipifax und Wunderlich nun glauben oder nicht glauben. Es kommt mir nicht drauf an, einzelne Personen zu überzeugen, aber ich lasse mir nicht Motive unterstellen, die ich nicht habe, nie hatte und nie haben werde.

Nun komme ich zu der nächsten Unterstellung, nämlich, dass ich nicht unterscheiden könnte zwischen der „Entwicklung chemischer Substanzen, die auch zur Vernichtung von Menschen dienen können, und der ideologisch-wissenschaftlichen Unterfütterung von eugenisch und rassistisch motiviertem Massenmord“. Glaubt der das wirklich, der Pipifax? Unterstellt er mir, nachdem er das alles, was ich hier schreibe, gelesen hat (und wenn nicht, erreicht ihn diese Frage ja ohnehin nicht), ernsthaft, ich könnte diese beiden Dinge nicht unterscheiden?

Er verkennt, dass ich von Anfang an klar gemacht habe, wieso ich diese Fritz Haber/Kampfgas/Walter Heerdt/Zyklon B-Geschichte überhaupt gerade bei diesem Artikel gepostet habe. Einfach aus assoziativen Gründen, weil mir der Begriff „Versagen von Wissenschaftlern“ in dem Artikel auffiel und, wie ich schon in den Postings sagte, mir dazu ein anderes Versagen anderer Wissenschaftler einfällt. Der Begriff der Assoziation dürfte auch Pipifax geläufig sein. Woher dann also die Unterstellung, ich könnte zwischen diesen beiden Themen nicht unterscheiden?

Andererseits sind sie aber auch gar nicht so verschieden. Worum geht’s denn dabei? Es geht in beiden Fällen darum, dass Wissenschaftler (ob’s nun Biologen, Chemiker, Physiker oder was auch immer sind) sich von totalitären Regimen missbrauchen lassen. Natürlich ist es nicht dassselbe, ob man als Wissenschaftler (pseudowissenschaftliche) Argumente für eine verbrecherische Praxis (die Ermordung von Menschen mit Behinderung unter dem Titel „Vernichtung lebensunwerten Lebens“) liefert oder ob man mit (tatsächlich) wissenschaftlichen Methoden direkt ein Vernichtungsmittel herstellt. Oder ein potentielles Vernichtungsmittel, wie im Fall des Zyklon B, das eben ursprünglich zum Zweck der Schädlingsbekämpfung entwickelt wurde.

Mir ist schon klar, dass die Frage, ob mich diese Unterscheidung intellektuell überfordere, einfach nur dem Zweck der Polemik dient. Andererseits, vielleicht hält er mich ja wirklich für so blöd, der Pipifax. Dann kann ich ihm aber auch nicht helfen.

Dann ist da am Ende noch die Sache mit der „für bestimmte Lager typischen rhetorischen Strategie“. Da meint er die Tatsache, dass ich mir erlaubt habe, meine Freundschaft zu einer Reihe von Juden zu erwähnen und zwei Namen zu nennen. Dass ich mir erlaubt habe, auf die Tatsache hinzuweisen, dass ich aufgrund meiner Biographie ein eher unwahrscheinlicher Kandidat für das Label „Antisemit“ bin. Und jetzt wird er lachen, der Pipi. Er hat nämlich in diesem einen Punkt sogar ein bissel recht. Es war mir tatsächlich nicht sonderlich wohl dabei, das hinzuschreiben. Nicht weil ich glaube, dass mir meine jüdischen Freunde bös wären, die kennen mich nun wahrlich lang genug. Aber der Pipi hat recht, sowas sagen AUCH Leute, die tatsächlich Antisemiten sind. Die sagen auch Sachen wie: „Ja, wenn ALLE Juden so wären wie SIE!“. Aber das sag ich eben nicht. Ich wollte lediglich meine jüdischen Freunde quasi als Zeugen anrufen, aber sowas soll man nicht tun. Gut, ein Punkt (und eigentlich der einzige) für den Pipifax.

Zu guter Letzt wirft mir dieser Unbedarfte einen Mangel an Selbstreflexion vor. Ha! Wozu, glaubt er, schreib ich denn diesen Blog? Wozu schreibe ich alles, was ich sonst schreibe? Aber was soll’s: Der Mensch kennt mich nicht, weiß nichts von mir, hält sich aber für berechtigt, mir dies und das zu unterstellen. Zu Unrecht.

Und damit zurück ins Studio.

46 Jahre

Es mag ja banal klingen, aber ich mache mir Gedanken über den Rest meines Lebens, und das hat vielleicht auch damit zu tun, dass sich morgen schon wieder ein Lebensjahr vollendet: Ich werde 46.

Und aus diesem Grund blogge ich jetzt so vor mich hin. Ich glaube ja nicht, dass so ein Blog wirklich gelesen wird, denn es gibt derartig viele davon (und die meisten sind blökender Schwachsinn), dass es ja reiner Zufall sein müsste, wenn man gerade auf meinen stoßen würde. Zufall, oder eben eine Kombination von Schlüsselwörtern, die jemand in eine Suchmaschine eingibt, nachdem die Crawler einmal drübergekrochen sind, über meine Beiträge.

Da mich niemand zwingen kann, hier systematisch vorzugehen, springe ich jetzt ein wenig von einem Gedanken zum anderen. Ein — wenn nicht DAS — Leitmotiv dieses Blogs ist unabhängiges Denken, also etwas, wofür man anderswo eher bestraft als belohnt wird.

Mit der Zeit beginnt man zu bemerken, wie viele Menschen ein mehr oder weniger offensichtliches Kastel in ihrem Hirn haben. Und die Dinge, die in diesem Kastel (es können auch mehrere sein) liegen, die gehören dorthin, die werden nicht hinterfragt, die liegen an ihrem Platz wie das Besteck und der Dosenöffner in der Küchenlade. Ab und zu nimmt man sie vielleicht heraus, dann werden sie abgewaschen und wieder hineingestellt. Aber ob sie überhaupt in diese Lade gehören und ob man diese Lade eigentlich haben muss, das wird schon aus Bequemlichkeit nicht gefragt.

Ich will die Metapher nicht überstrapazieren. Aber ich nenne Beispiele: Ein Beispiel, das mir sehr am Herzen liegt, ist das Thema Demokratie versus Totalitarismus. Dazu gibt es, als eine Art Überblicksinformation, einen ganz guten Artikel in der deutschen Wikipedia:

Zum Artikel hier klicken

Ich meine, dass die Kritik an der Gleichsetzung von Stalinismus und Nationalsozialismus in ihrem Kern substanzlos und daher wertlos ist. Ich halte es da ganz mit Hannah Arendt, die Nationalsozialismus und Stalinismus als „Variationen des gleichen Modells“ bezeichnet, ich meine: völlig zurecht.

Das Problem ist nur, dass die ja schon seit den Zwanzigerjahren des vorigen Jahrhunderts massiv in den Westen dringende und sehr bewusst gesteuerte kommunistische Propaganda sich offenbar tief in die Hirne ganzer Generationen von westlichen Intellektuellen (und solchen, die es werden wollen) gegraben hat. Und das führt bis heute dazu, dass den meisten dieser Leute unmittelbar klar ist, dass der Nazistaat böse war und dass man alles tun muss, um das neuerliche Vordringen rechtsextremer Kräfte hierzulande und überhaupt zu verhindern. So weit einverstanden.

Was diesen Leuten hingegen nicht bewusst und überhaupt nicht klar ist: dass der Sowjetstaat genauso böse war. Wenn ich etwa lese, dass zwischen 1928 und 1937 unter Stalin mehr als 10 Millionen Menschen, die sogenannten Kulaken (das waren de facto Leute, die ein paar Kühe, Pferde oder Schafe besaßen), entweder gleich ermordet oder in die Gulags deportiert wurden, dann frage ich mich wirklich, inwiefern das auf einer höheren moralischen Stufe stehen soll als der Holocaust. (Für jene, die was nachschlagen wollen, seien die Wikipedia-Artikel zu den Begriffen Demozid und Holodomor empfohlen, einfach draufklicken.)

Damit will ich nicht zu den Leuten gehören, die versuchen, den Holocaust, den systematischen, industriellen Mord an sechs Millionen Menschen (bekanntlich vor allem Juden, aber in geringerer Zahl z.B. auch Sinti und Roma) in irgendeiner Weise zu relativieren. Das ist ja eine beliebte Strategie, die von allen möglichen Seiten (und im Falle des Holocaust natürlich in erster Linie von Rechtsradikalen, Neonazis und derlei Gelichter) gepflogen wird: Wenn es da also heißt, die Deutschen haben unter der Naziherrschaft die Juden vernichtet, dann kommt man mit dem Argument: „Ja, aber Stalin war ja auch böse!“ Das nenne ich Aufrechnen von Opfern, eine Vorgangsweise, die ich striktest ablehne.

Das kann allerdings nicht bedeuten, dass es im Umkehrschluss nicht erlaubt wäre, über die Opfer Stalins zu sprechen. Nur aufrechnen soll man nicht. (Es ist letztlich auch nichts damit gewonnen, wenn man darauf hinweist, dass dem stalinistischen Morden deutlich mehr Menschen zum Opfer gefallen sind als dem Holocaust.) Man sollte vielmehr daraus nur einen Schluss ziehen: dass jegliche Diktatur, und schon erst recht jegliche totalitäre Diktatur (nicht jede Diktatur ist totalitär, aber jede Diktatur ist abzulehnen, weil sie jedenfalls ein Unrechtssystem darstellt und außerdem im Prinzip jederzeit totalitär werden kann) mit gleicher Vehemenz abzulehnen ist. Das ist kein Aufrechnen, das ist auch kein Vermischen von Begriffen, aber ich meine doch, für das einzelne Opfer war es ziemlich egal, ob es in Auschwitz oder im Gulag zu Tode kam oder ob es von der Gestapo oder vom KGB gefoltert wurde. Bzw. im Namen der Rasse oder im Namen der Klasse.

Man kann übrigens auch ohne langes Studium von verschiedenen Theorien des Totalitarismus einen einfachen Schluss ziehen: sowohl Nationalsozialismus als auch Kommunismus/Stalinismus wollen eine „neue Gesellschaft“ und als deren Grundlage einen „neuen Menschen“ schaffen. Das ist bekanntlich unmöglich. Es mag möglich sein, die Gesellschaft langsam zu verändern, aber der Fehler den beide Ideologien machen, ist, die menschliche Natur zu verkennen oder zu verleugnen. Menschen können auf die Dauer unter keinem Führer glücklich werden, ob rot oder braun, ob Hitler oder Stalin. Und „neue Menschen“ sind leider allzu oft nur das, was von den „alten Menschen“ nach Jahren von Folter, Mord, Unterdrückung und Versklavung übrigbleibt.

Aber viele, viele hier in westlichen Ländern sind auf einem Auge blind. Sie sehen den Naziterror, aber sie sehen den kommunistischen Terror nicht. Sie denken an Auschwitz, aber sie denken nicht an Pol Pot. Sie denken z.B. auch nicht an Tibet, in dem bis heute Arbeits- und Folterlager existieren, in dem mindestens eine Million Menschen umgebracht und mindestens genau so viele versklavt wurden seit der völkerrechtswidrigen Annexion Tibets durch die chinesisch-kommunistische Armee.

Nein, das alles sehen Sie nicht, was Sie sehen ist nur das böse Amerika, ist nur Guantanamo, ist nur Dablju Bush, ist nur Abu Ghraib, ist nur der Irak und Afghanistan. Ich gebe gern zu, dass auch die Analyse dessen, was die USA falsch machen (und gemacht haben), ein durchaus lohnendes Unterfangen wäre. Aber eines möchte ich doch schon an dieser Stelle festhalten: Die USA sind eine Demokratie und keine Diktatur, schon gar keine totalitäre. Auch hier höre ich die Linksverbinder schon aufschreien: von Mord und Totschlag, den die Amis über diverse Länder gebracht haben, von den vielen Toten, die der Kapitalismus angeblich oder wirklich verursacht hat und weiter verursacht, und so weiter halt.

Wobei das ja nicht alles falsch ist. Wollte ich das behaupten, so wäre ich ja um nichts besser als jene Kastldenker, die ich am Anfang dieses Eintrags — aus Überzeugung! — verunglimpft habe. Aber man kann nun einmal nicht leugnen, dass die USA eine Demokratie sind, eine seltsame vielleicht, aber eben doch eine Demokratie. Das zeigt sich unter anderem darin, dass der grausliche Dablju im nächsten Jänner endgültig Geschichte sein wird, ob er will oder nicht. Von Fidel Castro kann man das nicht behaupten…

Und so schließt sich denn der Kreis: Die Feinde meiner Feinde sind, eben nicht notwendigerweise meine Freunde. Differenzierung tut not, aber ebenso not tut klare Sicht und klares Aussprechen von Fakten, die gerade in Westeuropa durch anhaltende Propagandavernebelung vieler Gehirne immer noch verdreht oder verleugnet werden.

Und so ist denn, während ich diesen Satz schreibe, gerade Mitternacht, und somit beginnt mein Geburtstag, und ich bin 46. Das allein war doch vielleicht diese Abhandlung wert.