Gedanken zum Nahostkonflikt: eine Replik

[Das Folgende ist eine Replik auf eine Replik auf eine Replik zu einem Artikel in einem anderen Blog. Da die Replik aber beträchtlich länger geworden ist als üblich und auch länger als das, worauf sie repliziert, habe ich mir doch erlaubt, sie auch als eigenständigen Artikel zu betrachten und hier in meinen eigenen Blog zu stellen.]

Einmal probier ich’s noch, Ihnen (Sie verzeihen, dass ich das Internet-Du vermeide, schließlich kennen wir einander gar nicht) meinen Standpunkt zu erklären und Ihnen vielleicht eine mögliche neue Perspektive zu eröffnen. Nicht, dass ich glaube, dass es wahnsinnig viel bringt, aber trotzdem.

Sie hängen hier an einer bestimmten, vordefinierten Begrifflichkeit, die Ihnen dann die moralische Rechtfertigung der einen und die Verdammung der anderen Seite bringt. Was ich damit meine ist: Wenn Sie von Israel sprechen, dann sprechen Sie von „Militäreinsätzen“. Da gibt es also einen Staat, ein Militär und einen Einsatz, und das klingt alles ungeheuer legitim. Und Sie finden es auch legitim, wenn man der Zivilbevölkerung das Wasser abdreht. Haben Sie schon einmal versucht, bei 40 Grad im Schatten ohne Wasser ein kleines Kind zu versorgen oder für eine Familie zu kochen? Probieren Sie’s doch einmal. Dann werden Sie nämlich auch schnell verstehen, warum Organisationen wie die Hamas bei den Palästinensern einen hohen Zuspruch haben. Was die Hamas betrifft, liegt das auch daran, dass sie bei uns zwar nur als Terrororganisation wahrgenommen wird, aber in Wirklichkeit innerhalb der palästinensischen Gesellschaft eher eine soziale Organisation ist (womit ich den Terror gegen Israel weder bestreiten noch rechtfertigen will; aber den anderen Aspekt kennt man im Westen kaum; und er erklärt auch, warum Palästinenser die Hamas anders wahrnehmen).

Aber zurück zur Begrifflichkeit. Was haben wir auf der anderen Seite? Nichts eigentlich. Keinen Staat, daher auch keine Armee, einige Polizeieinheiten, und dann eben Organisationen wie Fatah, Hamas und so weiter, die im Westen mehr oder weniger als Terrororganisationen gelten. Und der Terror, der von manchen dieser Organisationen ausgeht und der sich weitgehend gegen die israelische Zivilbevölkerung richtet, wird, zurecht, verdammt.

Nur: Wissen Sie eigentlich, dass auch die Israelis so angefangen haben? Was war denn mit der Bombe im King David Hotel (22. Juli 1946, 91 Menschen tot, vor allem Briten)? Das war der Irgun, eine jüdische paramilitärische Organisation, übrigens unter dem Kommando des späteren israelischen Premierministers Menachem Begin. Es gab in den dreißiger und vierziger Jahren noch mehr von diesen Einheiten, Palmach, Haganah, Lehi und wie sie alle hießen, die teilweise ineinander übergingen, teilweise auseinander hervorgingen, später zum Teil fusioniert wurden. Der Punkt ist: Die haben auch Terror betrieben. Oder es wurde jedenfalls so wahrgenommen. Nicht nur das: 2006 gab es in Israel eine 60-Jahr-Feier dieser Bombenexplosion, Begin war dabei. Die Briten protestierten, worauf man ihnen antwortete, es hätte ja Warnungen gegeben, und sie hätten es eben versäumt, das Hotel zu evakuieren. Na, sehr schön. Israelis dürfen also den gewaltsamen Tod von 91 ihrer „Feinde“ von damals noch 60 Jahre später feiern. Ich muss Ihnen ehrlich sagen, dass ich das nicht weniger abstoßend finde als das Feiern eines nun freigelassenen drusischen Mörders, der in den Siebzigerjahren ein vierjähriges Kind erschlagen hat. im Libanon (Sie kennen ja die Geschichte).

Worauf ich hinauswill, und warum ich das in dieser Länge ausführe: Man sollte Handlungen nicht an ihrer vermeintlichen A-priori-Legitimität messen („Militäraktionen“), sondern danach, was sie an Leiden verursachen. Nur ein Beispiel: Wenn die Amerikaner über vietnamesischen Dörfern Napalmbomben abgeworfen haben, die Menschen in lebendige Fackeln verwandelten und ihnen einen unvorstellbar grauenvollen, langsamen Tod in den Flammen bescherten, dann könnten Sie das, wenn Sie wollten als „Militäraktion“ und daher als „legitim“ bezeichnen. Aber was wäre damit gewonnen?

Es ist übrigens auch nicht wahr, dass Israel, so wie Sie behaupten, alles getan hätte, um Frieden mit den Palästinensern zu machen. Lesen Sie z. B. den ausgezeichneten Artikel zu Camp David II von Ludwig Watzal (S. 4-6 des Dokuments). Dann erkennen Sie, dass es mit dem angeblich so großzügigen Angebot Ehud Baraks an Jassir Arafat nicht so weit her war. Und das zieht sich durch. Die Palästinenser haben im Wesentlichen drei Forderungen:

  • Sie wollen einen lebensfähigen Staat mit einem einigermaßen zusammenhängenden Territorium,
  • sie wollen eine halbwegs befriedigende Lösung der Flüchtlingsfrage (und ich glaube nicht, dass sie auf einem Rückkehrrecht für vier Millionen Menschen bestehen würden)
  • und sie wollen einen Stopp des israelischen Siedlungsbaus.

Eigentlich legitime Forderungen, aus meiner Sicht.

Ein wenig angst und bang wird mir, wenn ich bei Ihnen lese, Sie fordern „die Zerschlagung der Terrororganisationen“ und die „Ersetzung des sozialen Fundaments der Palästinenser durch etwas anderes“.
Nicht nur, dass das wirklich reichlich vage ist, es klingt auch nicht gut. Terrororganisationen zerschlagen, na vielleicht. Aber „Ersetzen des sozialen Fundaments durch etwas anderes“? Durch WAS, bitte? Und vor allem: WIE??? Gewaltsam? Von außen? Oder was soll ich mir unter diesen kryptischen, aber irgendwie nach Gewalt riechenden Worten vorstellen?

Was schließlich die israelischen Rechten und Ultrarechten betrifft: Sie haben zwar recht, wenn Sie sagen, dass jene Extremisten, die den totalen Krieg gegen die Palästinenser wollen (und auch ihre Deportation und dergleichen fordern), sich bisher nicht durchgesetzt haben. Aber die Rechte in Israel hat auf der anderen Seite jede sinnvolle Anstrengung in Richtung eines Friedens erfolgreich torpediert.

Es kann schon sein — und ich würde das auch behaupten –, dass die Radikalen auf beiden Seiten eigentlich keinen Frieden wollen, jedenfalls keinen, der nicht mit der totalen Niederlage der anderen Seite verbunden ist. Das gilt dann aber genauso für einen nicht unbeträchtlichen Teil der Israelis. Ich glaube aber auch, dass die Mehrheit auf beiden Seiten nichts mehr wünscht als dass Frieden einkehrt, auch wenn vielleicht auf beiden Seiten die Ansichten darüber, wie das geschehen könnte, falsch sein mögen. Und was die Palästinenser betrifft, so dürfen Sie nicht vergessen, dass Sie und ich aus österreichischer Perspektive leicht reden haben: Wir sind nicht betroffen und können uns in Ruhe Gedanken machen und Meinungen bilden. Das können die dort nicht, wenn sie tagtäglich mit der Realität der israelischen Präsenz, die sie als Besatzung und Unterdrückung
erleben, konfrontiert sind. Und das sind ja dort auch nicht alles Intellektuelle.

Sie brauchen sich doch nur vorzustellen, wie das wäre, wenn es Österreich beträfe. Nehmen wir also an, die tschechische Armee (die Tschechen mögen es mir bitte verzeihen, es ist nur wegen der Anschaulichkeit) hätte beträchtliche Teile des Landes besetzt, das die Österreicher für ihres halten. Die Tschechen hätten eine hochgerüstete Armee, die mit Panzern kreuz und quer durch das Land fährt, das die Österreich „Österreich“ nennen. Dieses Österreich ist aber kein Staat und von der Welt nicht anerkannt. Österreich hat auch keine Armee, sondern nur einige, untereinander zerstrittene „Befreiungsorganisationen“. Die Tschechen kontrollieren alle Grenzen, Bahnhöfe, Flughäfen, sämtliche Verkehrswege sowie auch die Versorgung der Österreicher mit Wasser, Lebensmitteln, Medikamenten, Treibstoff und so weiter. Es gibt zwar diverse Nachbarländer, die sich mit Österreich solidarisch erklärt haben und in denen, in Flüchtlingslagern, Millionen von Österreichern leben. Diese Nachbarländer haben auch schon Kriege gegen Tschechien geführt, allerdings die meisten davon verloren. Tschechien wird, sagen wir, von einer Großmacht (Russland, bitte auch da um Verzeihung) unterstützt, in der es einen starken tschechischen Bevölkerungsanteil gibt und in der sehr einflussreiches protschechisches Lobbying betrieben wird. Die Österreich wollen Selbständigkeit, sie wollen einen eigenen Staat. Ihre Führer sprechen von Kampf, seit Jahrzehnten, aber wenn man genau hinschaut, wirtschaften wohl manche dieser Führer eher in die eigene Tasche. Dennoch: Die Österreicher haben niemanden sonst, der für sie kämpft und stehen deshalb nolens volens zu diesen Führern, und manche befürworten sogar den eher scheußlichen Terror, den die österreichischen Kampforganisationen gegen die tschechische Zivilbevölkerung veranstalten. Manche dieser Attentäter, die bei den Attentaten zumeist auch selbst sterben, werden von den Österreichern als Helden gefeiert. Schließlich seien sie ja im Kampf für ein freies Österreich gefallen, so der Tenor. Und so weiter und so fort, you get the drift.

Ich glaube, was uns allen fehlt, ist ein gerüttelt Maß an Phantasie, mit der wir uns vorstellen können, was in den Palästinensergebieten (und in den Köpfen und Herzen der Menschen, die dort leben) wirklich geschieht. Dazu kommt, dass auch hierzulande und im gesamten Westen die Presse eher einseitig und alles in allem proisraelisch und antipälastinensisch berichtet.

Natürlich ist der Terror von Hamas und Co. längst kontraproduktiv geworden, wenn er jemals etwas anderes war. Aber genauso kontraproduktiv ist die sture Fortsetzung der israelischen Besatzungspolitik mittels Armee und, was noch schlimmer ist, mittels dauerhafter Siedlungen in Palästinensergebieten, die wohl inzwischen eines der größten Hindernisse auf dem Weg zu einem Frieden darstellen. Man muss sich nur die Bilder anschauen, wenn (hin und wieder) solche Siedlungen von der israelischen Armee geräumt werden. Da müssen also Juden andere Juden abtransportieren, die sie als Mörder und Verräter an der eigenen Sache beschimpfen. Ich möchte auch nicht der israelische Soldat sein, der DAS tun muss. Aber noch weniger möchte ich der sein, der in einer Planierraupe der Armee sitzt und das abertausendste palästinensische Haus zerstört oder der auf einen Zwölfjährigen schießt, nachdem der Steine nach ihm geworfen hat.

Mein Fazit ist: Einseitige Parteinahme ist zwar gerade in dieser Sache die Regel, aber sie ist kontraproduktiv. Es wäre wesentlich besser, wenn gerade Europa hier eine stärkere und unparteiische Vermittlerrolle einnehmen würde. Zum Teil geschieht das ja, aber nicht in genügendem Ausmaß.

Es hat keinen Sinn, in diesem Konflikt ständig zu fragen, wer angefangen hat. Das führt nur zu einer Diskussion auf Kindergartenniveau, wie in der Sandkiste, nur tödlich. Das einzige, was Sinn hat, ist, zu fragen, wie man es beenden könnte. Und dazu ist Phantasie, Großzügigkeit und Mut gefragt. Natürlich wiederum: auf beiden Seiten. Wenn Sie den Eindruck haben, dass ich ein Feind der Israelis und ein Freund der Palästinenser bin, dann irren Sie. Ich habe nur versucht, ihre einseitig proisraelische Position zu konterkarieren, die ich unhaltbar finde.

Wünsche noch einen schönen Tag.